Blindheit
Ein dunkelleuchtendes Rot ging eines Tages spazieren, da die Sonne so schön schien. Unterwegs traf es ein blassverschleiertes Grau, das grimmig durch die Straßen schlich. „Guten Tag, warum bist du denn so blass und farblos“, fragte das Rot freundlich. „Warte ab“, sagte das Grau, „bis der trübe Nebel kommt.“ Die Sonne wich, der Nebel tauchte die Welt in Blindheit. Das Grau verschwand und das Rot sah es nicht mehr. „Wo bist du, Grau?....“ waren die letzten Worte, die das Rot von sich gab, bevor das Grau es hinterrücks erstach. (S.H.)
(c) Sigrun Hopfensperger: Das Urheberrecht aller Texte auf dieser Seite liegt bei mir.
Dreizehn Bilder…..
…. stehen nebeneinander gereiht auf dem Regal. Dreizehn Bilder von Kindern, Enkeln und Urenkeln.
Dreizehn Bilder schöner Erinnerungen an ein Leben in einer großen Familie.
Ich kenne meine Großtante nur als starke, resolute, humorvolle, hochgewachsene und schlanke Frau. Fünf Kinder zog sie groß, allesamt der Mutter ergeben in Liebe und Respekt. Was mir immer schon
an ihr gefiel ist ihr scharfsinniger, meist sehr trockener, leicht sarkastischer Humor. Das ist eine Frau, die mitten im Leben steht, Höhen und Tiefen gekonnt gemeistert hat und weiß, wo es
langgeht. Dreizehn Bilder bieten Halt und Sinn. Dreizehn Bilder zeigen, wie viel das Leben wert ist.
Dreizehn Bilder schöner Erinnerungen an ein Leben in einer großen Familie.
Ich sitze an ihrem Bett. Es ist schwer sie zu verstehen. Seit über einem Jahr ist sie nun hier. Nach zwei schweren Schlaganfällen ist sie nun halbseitig gelähmt, kann nicht mehr laufen und nur
mit Mühe sprechen. Sie sieht traurig aus, wünscht sich, endlich sterben zu dürfen. Doch ihr Geist ist noch zu wach. Er ist nicht müde genug, endlich loszulassen. Dreizehn Bilder, die ihr
blieben. Dreizehn Bilder geben den letzten Sinn.
Dreizehn Bilder schöner Erinnerungen an ein Leben in einer großen Familie.
Mühevoll suche ich nach Worten. Was soll ich ihr erzählen? Zu weit sind unsere Leben auseinander. Die obligaten Fragen nach den Kindern und Verwandten scheinen sie nicht mehr zu langweilen.
Jeder spricht wohl immer nur über dasselbe Thema. Was soll man mit alten Menschen auch schon anderes besprechen? Geduldig gibt sie Auskunft, soweit sie etwas sagen will. Zwischendurch
Schweigen. Es ist mir peinlich.
Dreizehn Bilder spiegeln Stolz und Freude. Dreizehn Bilder sind nicht vollständig.
Dreizehn Bilder schöner Erinnerungen an ein Leben in einer großen Familie.
Eine Enkeltochter kommt. Ich habe sie bestimmt über zwanzig Jahre nicht gesehen. Sie ist locker und unkonventionell. Sie löst das peinliche Schweigen auf, spricht über Männer, Liebe und das
Leben. Wir alle lachen, es tut gut. Wir helfen meiner Tante in den Rollstuhl, fahren sie nach unten. Es gibt Kaffee und Kuchen im Pflegeheim. Sie besteht darauf, bezahlen zu dürfen. Auch
meine Oma hatte immer bezahlt und Geld gegeben. Oft war es unangenehm, ich wollte kein Geld nehmen. Doch jetzt weiß ich: Man muss das Geld nehmen! Das Geld wird zum Symbol für Liebe, verliert
an materieller Bedeutung. Alles verliert an Bedeutung mit der Zeit. Dreizehn Bilder, davon eines, das meine Oma zeigt. Dreizehn Bilder vergangener Tage.
Dreizehn Bilder schöner Erinnerungen an ein Leben in einer großen Familie.
Das Leben beginnt mit nichts und endet mit nichts. Nur die Erinnerungen zeigen, dass dazwischen Fülle lag.
Rizanas Atem
Einatmen – Mit jedem Atemzug durchflute ich meine Lungen und jede einzelne ihrer vielen Verzweigungen mit frischem Leben. Stärke nährt die Hoffnung in mir. Hoffnung auf ein Morgen, Hoffnung auf ein Danach. Doch was kommt nach dem Atmen? Die unbändige Lust auf das Leben wird ungestillt vorbei eilen, vorbei an meiner jungen Seele, die nach Leben schreit.
Arme Rizana, wehe,
wenn der kalte Stahl dich
hart in deinem Nacken küsst.
Ausatmen – Mit dem Atem fließt die Spannung dahin, einer Gelassenheit weichend. Ich atme aus die Angst, doch mit der Leere in meiner Lunge kommt der Drang nach neuer Fülle. Was, wenn es mit der Leere nicht zeitgleich endet und mich der Griff des Todes zu einem neuen Atemzug zwingt?
Arme Rizana, wehe,
wenn der kalte Stahl dich
hart in deinem Nacken küsst.
Was soll ich tun? Wer mag es mir sagen? Soll mein Letzter Atemzug nach innen oder nach außen gerichtet sein? Erwarte ich den Kuss des Stahls voller Hoffnung und durstig nach Leben oder lasse ich los, darauf vertrauend, dass das Trennende sich zeitig einstellt? Ratlosigkeit macht sich in mir breit, mir, dem Kinde, das geopfert wird einem System der Lebensfeindlichkeit.
Arme Rizana, selig,
der Kuss des Stahls
hat dich befreit von aller Ratlosigkeit.
In uns ist sie geblieben, die die Frage nach dem Warum. Eine Frage ohne Antwort …
Die Jitterbug-Revolution
Dieser Rucksack ist mir ans Herz gewachsen. Das kann nur verstehen, wer die Straße kennengelernt hat, wer sich gegen Wind und Wetter, Meter für Meter gegen die Schmerzen ankämpfend, weiter fortbewegt hat und glücklich war, eine Herberge zu finden, in der er seine müden Glieder ausruhen konnte.
Burgstadt war ein kleines Städtchen mit gerade einmal dreitausend Einwohnern. Historische Fassaden waren nur noch vereinzelt und überwiegend an den Gehöften rings herum anzutreffen. Bröckelnde Zeitzeugen längst vergangener Tage mussten adretten einheitlichen Klinkerfassaden weichen, die ein einheitliches Bild auf den Betrachter zurückwerfen sollten. Alles sah so friedlich aus, sauber, ordentlich, gepflegt, adrett, kurz: Es wirkte perfekt.
Kunstvoll angelegte Vorgärtchen, die - jedes einzelne für sich - einen Preis für ihre Gartengestaltung verdient hätten, reihten sich aneinander. Hübsch arrangierte Blumen, mal in ebenem Beet, mal
stufenförmig angepflanzt, luden zum Verweilen ein. Dazwischen immer wieder Buchsbäume, kunstvoll beschnitten und jeglicher Natürlichkeit entbehrend, als ob der poetische Johnny Depp als "Edgar mit
den Scherenhänden" höchstpersönlich Hand angelegt hätte, standen sie ermahnend Spalier, mir zu zeigen, dass der Mensch die Natur beherrschte, dass nichts mehr sich selbst überlassen blieb, sondern
einzig und allein menschlicher Schöpferkraft zu verdanken war. Da aber in einer Straßenreihe wenigstens zehn Schöpfer nebeneinander wohnten, wirkte es auf mich, als sei dies ein Schöpfungsduell
selbst ernannter Kunstgottheiten. Dieser Anblick, bei dem manch einer verzückt "wie schön" rufen möchte, ließ mich erschaudern und so schlenderte ich, auch sichtlich erschöpft, weiter.
Endlich erblickten meine Augen das, wonach sie sich schon so lange gesehnt hatten:
Gasthof - Fremdenzimmer! Dass mich die anwesenden Gäste, vornehmlich Männer an der Dorftheke, erstaunt musterten, empfand ich als durchaus normal.
In Orten wie diesen ist es eine Seltenheit, dass eine Frau eine Schenke betritt. Noch viel seltener ist, dass eine Frau wochentags eine Schenke betritt. Eine Frau, die wochentags und dazu noch
alleine eine Schenke betritt, war wohl im letzten Jahrhundert erst einmal vorgekommen und man erinnerte sich vielleicht nur noch sehr schwach daran. Eine Frau, die alleine an einem Wochentag eine
Dorfschenke betritt und dazu noch fremd ist und - was für die anwesenden Herren ganz befremdlich wirken musste - ihren halben Hausstand auf dem Rücken mit sich herumschleppte, das musste wie das
achte Weltwunder wirken. Die stierenden Blicke lösten sich und die offenstehenden Münder schlossen sich erst, nachdem ich laut und selbstbewusst mein "Guten Tag! Ich bin auf der Wanderschaft und
suche ein preisgünstiges Zimmer für die Nacht, möglicherweise auch für zwei Nächte. Ist hier noch was frei?" erklingen ließ. Der Wirt wusste nicht, ob es sich in Anwesenheit des gesamten
patriarchalischen Zirkels geziemte, sofort meinen Wünschen entgegen zu kommen und so setzte er sich erst nach einer mürrischen Verzögerung in Bewegung und schlug das Gästebuch auf. "Ja, Zimmer 11 ist
noch frei. Übernachtung mit Frühstück macht zwanzig Euro." Dabei musterte er mich so auffällig, als ob er daran zweifelte, dass ich auch nur einen einzigen Cent Bargeld in der Tasche hätte. "Ist in
Ordnung, ich bin erschöpft und möchte mich ausruhen. Wollen Sie sofort abrechnen oder reicht das bei Abreise?"
Dies genügte ihm, zumal ich noch ein großes Wasser bestellt und sofort bezahlt hatte und er mit einem Blick erspähen konnte, dass in meiner Börse tatsächlich Bargeld enthalten war. Wortlos drückte er
mir den Schlüssel in die Hand und deutete auf das Treppenhaus nebenan. Ich fand meinen Weg, denn man müsste nicht meinen, dass der freundliche Herr mich nach oben gebracht, geschweige denn meinen
Rucksack getragen hätte.
Endlich ein Bett! Ich schloss die Türe ab, schmiss den Rucksack in die Ecke, riss mir die
Kleidung vom Leibe und ging erst einmal duschen. Das tat gut, belebte den erschöpften Körper wieder ein wenig. Nachdem ich mich ein wenig ausgeruht hatte und es noch nicht spät war, beschloss ich,
mich noch einmal anzuziehen und mir das Dorf anzusehen. Es war noch hell draußen und die Luft war milde. Die Sonne schickte noch einige schwache Strahlen vom Himmel und so spazierte ich los.
Es ist ein Unterschied, ob man mit Gepäck beladen wandert oder ob man ohne Lasten, frisch und erholt, spazieren geht. Die letzten Kilometer meiner Etappe waren doch recht ermüdend. Dies hier aber war
belebend für mich, entspannte mich und tat mir gut.
Der Stadtkern war sehr idyllisch. In der Mitte stand einer jener üblichen Dorfbrunnen umringt von einigen Sitzbänken. Das Kopfsteinpflaster ließ einen beinahe vergessen, dass das 21. Jahrhundert geschrieben wurde. Ich nahm auf einer der Bänke Platz und genoss die Stille, die aus meinem Inneren kam. Dreißig Kilometer sind nicht weit, aber zu Fuß bedeuten sie schon ein gutes Stück. Es war eine Etappe, die mich mit Stolz erfüllte. Ich saß hier an einem fremden Brunnen, in einem fremden Städtchen und bin dorthin nur durch eigene Anstrengung gelangt. Ich streckte meine Beine aus und entspannte mich. Das tat gut. Ich hatte das Gefühl, ich könnte hier ewig sitzen bleiben.
"Guten Abend, schön hier am Brunnen zu sitzen, nicht?" Ein älterer Herr ließ sich neben mir nieder. Auch er streckte seine Beine aus und blickte auf den Brunnen. Fast mechanisch erwiderte ich jene Höflichkeitsfloskeln, die man üblicherweise von sich gibt, wenn man niemanden brüskieren will, der einen gerade angesprochen hat. Ich wollte nicht sprechen, wollte still sitzen und genießen. Er schwieg danach ebenfalls. Mir wurde dieses Schweigen mit einem Mal unangenehm. Ich fühlte mich verpflichtet, etwas zu sagen. Niemand drängte mich, er schon gar nicht und doch hatte ich das Gefühl, das Schweigen brechen zu müssen. Und so begann ich mit einem etwas hilflosen Gespräch: "Wie alt ist dieser Brunnen?" Ich wusste auch nicht, was ich sonst hätte sagen sollen. Er begann zu lachen, erst leise dann immer lauter und plötzlich brach es nur so aus ihm heraus: "Es ist immer dasselbe mit euch jungen Leuten, immer dasselbe. Ihr könnt nicht schweigen!" Was sollte ich denn nun davon halten? Ich war irritiert. Ich war es doch, die schweigen wollte und er war es, der mich dazu brachte, das Schweigen zu brechen. Seine Anwesenheit nötigte mich dazu. "Immer glaubt ihr, dass alte Leute nur quatschen wollen, dass sie jemanden suchten, der ihnen ein wenig über die Einsamkeit und über die Sinnlosigkeit des Lebensrestes hinweghelfen würde. Und immer lasst ihr euch - unangenehm berührt, gestört - dazu herab, dem Alten einen Gefallen zu erweisen und das Wort zu ergreifen, bevor er - wie euch scheint - um Gnade winselt und selbst das Gespräch auf die verstorbene Gattin lenkt, um anschließend, wie immer, auf die Kriegsjahre zu sprechen zu kommen. Ihr jungen Leute habt ein ganz falsches Bild von uns ..." Ich fühlte mich ein wenig ertappt. Ich hatte in der Tat damit gerechnet, dass er das Gespräch eröffnen würde, weil er, wie ich vermutete, ein Bedürfnis zu reden hatte. Ich hatte ihn auch tatsächlich als Witwer eingeschätzt. Und nun überrumpelte er mich damit. Er begann zu erzählen.
Was im Nachfolgenden kam, kann ich nicht mehr wortgetreu, sondern nur noch sinngemäß wiedergeben, aber es hat mich sehr bewegt:
"Ich bin 83 Jahre alt. Ich mag junge Leute. Im Herzen bin ich auch noch jung. Heute tanzen alle nach dieser technischen Musik. Viele meines Alters finden das grässlich, ein fürchterliches Gezappel zu einer viel zu lauten Musik. Hörst du den Brunnen plätschern? Das ist Musik, die Musik des stillen Augenblicks! Aber früher haben wir auch gezappelt zu einer fürchterlichen, grässlichen Musik: Negermusik nannte man damals den Jazz. Unsere Eltern hassten das. Doch wir liebten es. Kennst du den Jitterbug? Nein? Rock ’n Roll, die wilde Revolution der Fünfziger, das gab's zehn Jahre vorher auch schon. Man nannte das Jitterbug. Aus diesem Tanz entwickelte sich Boogie-Woogie und später Rock ’n Roll. Als die Küken anfingen, den Rock ’n Roll zu tanzen, da hatten wir "Großen" schon eine wilde Ära heimlichen Jitterbug-Tanzens hinter uns ... Das war ein Gezappel...... unsere Eltern hätten uns erschlagen, wenn sie geahnt hätten, dass wir heimlich über einen amerikanischen Sender diese Negermusik gehört hatten. Offiziell gab es nur das gute deutsche Volkslied: In der Schule, im Radio, zu Hause, alles war so züchtig und ordentlich. Nur wir, wir waren unordentlich. Wir taten dies heimlich, sehr heimlich, aber wir taten es gerne...... Ich mag es, wenn junge Leute heute tun, was sie wollen. Nur zu! Ihr könnt es, also tut es!"
"Ich kenne den Jitterbug, aber nur dem Namen nach. Boogie-Woogie ist mir ein Begriff, den kann ich auch tanzen ...", ließ ich verlauten.
"Quatsch, du kannst keinen Boogie-Woogie tanzen!"
"Natürlich kann ich das. Ich hab's doch gelernt!" Fast wollte ich protestieren.
"Du hast gelernt, die Schritte des Boogie-Woogie zu tanzen! Das ist ein Unterschied, Mädchen. Kannst du den Boogie fühlen? Ich meine, kannst du das Gefühl nachvollziehen, das uns damals dabei
begleitet hatte? Das war kein Tanz, so wie heute, das war ..... Freiheit! Endlich keine deutschen stolzen Zwänge, kein aufrechtes Rückgrat: 'Brust raus, Bauch rein, die Augen geradeaus. Der deutsche
Mann ist aufrecht!' Das war ein einziges sich Biegen und Winden, ein Loslassen, ein Kriechen und Bücken. Wir durften uns fallen lassen, nach Herzenslust zappeln und zucken, das war Revolution!" Seine
Augen blitzten und fast war mir, als ob er im Geiste tanzte, zuckte, zappelte.
"Der Glen Miller, der war damals unsere Nummer 1. Der hatte es drauf, verstand es, guten Boogie und Swing zu spielen. Heute spielen sie ja nur noch die Moonlight Serenade von ihm, diesen alten Sülzkäse ..." Er kicherte wie ein alberner Teenager ... Ich begann zu pfeifen: 'String of Pearls’ ..... Er schnippte mit den Fingern und wir beide wippten im Swingrhythmus auf der Bank hin und her ... "Woher kennst du denn das?" "Tja", meinte ich, "das ist der echte, der wahre Glen... besonders schön finde ich seine Interpretation von Gershwins 'I got Rhythm', die swingt so richtig ab ..."
"Erstaunlich, erstaunlich ... du hast doch den Glen Miller nie erlebt ..." "Nee aber er ist einer meiner ganz großen Lieblinge ..." und schon pfiff ich den nächsten Swing: 'Little Brown Jug’!
Er klatschte dazu einen astreinen Swing-Rhythmus und ließ mit einer erstaunlich guten baritonalen Stimme ein passendes Babadee dazu ertönen. Dass die Leute erstaunt stehen blieben, störte uns dabei
gar nicht. Wir waren eins, zwei Fans unter sich ... ich gab ihm meinen Walk-Man (ich habe nämlich immer eine Glen Miller-Kassette dabei) und es erklang gerade die "Rhapsody in Blue" nach Gershwin. Es
war sehr lustig anzusehen: Er hatte den einen, ich den anderen Knopf im Ohr. Und so saßen wir dicht beieinander und genossen die Musik, die uns vereinte. Wir waren zwei Fremde, die sich nie zuvor
begegnet waren, zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können, schon alleine durch den Altersunterschied. 'My Blue Heaven', eine ziemlich wüste Platte ertönte und er wollte
beinahe aufspringen. "Jitterbug, das ist ja Jitterbug!" Seine Beine zuckten und zappelten. Ja, das war ein Musikfreund, einer der die Musik gelebt hatte und sie immer noch lebte. "Mein Gott, dabei
haben wir die Mädels geschmissen, verstehst du, so richtig geschmissen und wir Jungs gingen ganz tief in die Knie, fast zu Boden. Nur wer ganz tief runter kam, hatte Chancen bei den Mädels ... Ich
lag immer fast am Boden ... den Mädchen zu Füßen und sie liebten es ..." Wir lauschten weiter, bis die Seite zu Ende war. "Oh, das war wunderschön, meine Güte, war das schön", schwärmte er. "Es gibt
noch eine Rückseite, soll ich umdrehen?“, fragte ich. "Nein, es ist spät geworden, ich möchte nach Hause. Ich danke Ihnen für diesen wunderschönen Abend, Madame!" Dabei zwinkerte er mir zu und
deutete einen Handkuss an. Ich lachte, ich verstand, was er meinte. Er war glücklich, denn er hatte seine Jugend wiedergefunden und wollte davon zehren. Er wollte ihn behalten, diesen
Augenblick, alleine!
Ich war nicht mehr länger erstaunt. Ich hatte heute etwas Wichtiges gelernt: Jugend ist keine Frage des Alters und Revolution keine Angelegenheit der Politik. Er hatte heute seine Revolution gehabt, seinen ganz persönlichen Aufstand: Er hatte es gewagt, die Grenzen seines Alters zu überwinden und sich wie ein Zwanzigjähriger zu benehmen. Jedes Kopfschütteln der Vorbeigehenden musste ihm dabei gut getan haben, zeigte es ihm doch, dass seine Revolution geglückt war. Der Aufstand des Alten gegen das Alter war perfekt! Es musste ihn mit Stolz erfüllt haben. Der große Freidenker aus einer Zeit, die das freie Denken verbot, wiederholte seine ganz private Revolution in einem 3000-Seelen-Kaff auf dem Marktplatz vor allen Leuten und weigerte sich einfach alt zu sein ...
Ich fühlte mich sehr bereichert durch diese Episode und ging zurück zur Pension. Wenn es meine Kraft zulassen würde, wollte ich am nächsten Morgen weiterziehen. (S.H.)
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